Felicia Herrschaft on Wed, 9 Apr 2003 13:41:59 +0200 (CEST)


[Date Prev] [Date Next] [Thread Prev] [Thread Next] [Date Index] [Thread Index]

[rohrpost] krisen und chancen interaktiver kunst?


 9. April 2003, 02:10, Neue Zürcher Zeitung


 «Das Wunder des Prozeduralen»
Krisen und Chancen einer interaktiven Kunst
In der Kunst mit neuen Medien zählen interaktive Arbeiten punkto
Produktion und Unterhalt zu den anspruchsvollsten Werken. Doch mit dem
Einbruch der New Economy macht sich in der «Szene» eine gewisse
Ernüchterung breit.


 «From innovation to quality» - nach 15 Jahren interaktiver Kunst mit
Hilfe digitaler Technologie sei man nun am Punkt angelangt, wo es um
Inhalte und Qualität gehe und die technische Innovation in den
Hintergrund trete. Solches sagte ein junger Medienkunst-Professor am
Berliner Transmediale-Festival im letzten Februar. Die Podiumsdiskussion
trug den Titel «Krise der interaktiven Kunst» und war ausverkauft.
Ähnliches liest man im Jury-Statement der letzten Ars Electronica Linz.
Auch hier wird bemängelt, dass man in der Vergangenheit oft den
technologischen Ansatz gegenüber der inhaltlichen Fragestellung zu stark
betont habe. Das sind nur zwei Hinweise für einen Befund, den man in
letzter Zeit häufig macht: Nach dem Platzen der New-Economy- Blase und
der immer aggressiveren Durchdringung unserer Lebenswelten mit digitalen
Technologien scheint so etwas wie eine Katerstimmung zu herrschen.
Net-Art, interaktive Kunst, multimediale Opern und andere neue Genres
hinterlassen nicht selten den Eindruck, man habe einer Versuchsanordnung
beigewohnt, die zwar viel simuliert und neue formale Zusammenhänge
schafft, darüber hinaus aber wenig präzise inhaltliche Fragestellungen
präsentiert. Das mag unter anderem daran liegen, dass das enge
Verhältnis zur aktuellen Technologie, zur industriellen Forschung und zu
entsprechenden Netzwerken eine kritische Distanz zum Medium selbst
erschwert.

Interaktiv contra «interpassiv»
Die Gattung ist ja noch jung, in den letzten Jahren wurde wild und
ideenreich gearbeitet, kombiniert, phantasiert, aber eher selten mit der
analytischen Aussenperspektive, aus welcher ein Kommentar zum gesamten
System möglich wäre. Kommt hinzu, dass die bereits traditionellen
Hilfsmittel, die immer wieder zum Einsatz kommen - Bildschirm und
Lautsprecher -, etwa in der zeitgenössischen Musik oder in der
Videokunst schon lange und gründlich thematisiert werden. Im
multimedialen Verbund - und das sind interaktive Arbeiten meistens -
offenbart das Zusammenspiel verschiedenster Medien und Techniken aber
oft ein Ungleichgewicht, welches dem gesamten Werk einen schlechten
Dienst erweist.

Das Problem beginnt aber bereits mit der Frage, was denn mit
interaktiver Kunst überhaupt gemeint ist. Oft genug wird sie heute mit
Situationen umschrieben, in denen der Betrachter mittels digitaler
Interfaces auf die Erscheinung des Werkes einwirken oder unter
verschiedenen Settings auswählen kann. Das greift allerdings zu kurz,
denn interaktive Kunst ist weit älter als die moderne digitale
Technologie. Der Interaktionsgedanke kann schon bei Dada festgemacht
werden, aber auch in der Fluxus-Bewegung der sechziger Jahre, im
«Expanded Cinema» (Valie Exports «Tast- und Tappkino» etwa) oder in
Closed-Circuit-Situationen von Nam June Paik. «Der Dialog mit dem System
wird zum künstlerischen Material» - so definiert Sökle Dinka in einer
Studie von 1997 die Gattung, deren Entwicklung sie über die letzten
achtzig Jahre nachzeichnet. Den emanzipatorischen Charakter solcher
Kunstwerke betont auch Peter Weibel, Leiter des Zentrums für Kunst und
Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe. Da in interaktiven Situationen der
Besucher das Werk handelnd erschliesst, wird die Aktion, mithin der
Konsument selbst zur Kunst. Dagegen sind Arbeiten abzugrenzen, die etwas
spöttisch als «interpassiv» bezeichnet werden und sich auf die
vorprogrammierte Wiederholung von Entweder-oder-Situationen oder
Multiple-Choice-Varianten beschränken. Das wirklich «offene» Kunstwerk
wäre aber erst jenes, welches sich als lernfähig erweist und sich nach
jedem Besuch und aufgrund aller vorgehenden Erfahrungen neu
konfiguriert.

Natürlich hat die rechnergestützte Technologie die Möglichkeiten für
solche Situationen enorm ausgeweitet und ist Basis des Erfolges der
neuen Medien in der Kunstpraxis. Allerdings entwickelte sich diese
parallel zu den Fortschritten der Computerindustrie. Deren Logik und
Defizite hat man sich oft auch eingehandelt. Diese enge Anbindung hat
mit dazu geführt, dass man heute an einem der wichtigsten Festivals
offiziell von der «Krise» spricht. Aber auch andere Gründe wären
anzuführen: Digitale interaktive Kunst verlangt intensive technische
Betreuung, die allzu oft nicht geleistet werden kann. Die Gerätschaften
altern schnell - ganz zu schweigen vom Problem ihrer Konservierung.
Seitens der Künstler sei eine «hit and run»-Mentalität festzustellen,
wurde in der besagten Diskussion von einem Kurator festgestellt. Man
installiert, reist ab und überlässt den Unterhalt dem nicht selten
überforderten Museumspersonal. Das sind bloss einige der vielen Probleme
auf der Angebotsseite.

Reale und uneingelöste Utopien
Auf Seiten der Nachfrage wird der Lern-Aspekt interaktiver Arbeiten
bemängelt. Oft gibt es etwas zu entdecken, zu erkunden, man wird
geführt, probiert aus und hat dann die Aufgabe bestanden. Etwas
zugespitzt lautet die Frage: Geht es um Aktionismus oder Kontemplation?
Geht es darum, dem Publikum wieder ein Gefühl der Verfügbarkeit über die
eigene Situation zu geben, wo es sonst doch den traditionellen Gattungen
wie Skulptur, Malerei usw. ziemlich passiv gegenübersteht? Und
schliesslich etwas allgemeiner: Sind die neuen Medien innerhalb der
Kunstpraxis vielleicht deshalb so erfolgreich geworden, weil sie die
vergangene esoterische Utopie, wonach Kunst und Leben zusammenfallen
sollten, zu neuem Leben erwecken? Schliesslich operieren sie häufig mit
alltäglichen Gegenständen, integrieren den Betrachter und lassen ihn im
auratischen Licht des Bildschirms erstrahlen.

Der Kunsthistoriker Hans Ulrich Reck polemisiert in seinem Pamphlet
«Mythos Medienkunst» (Köln 2002) ganz offen in diesem Sinne. Medienkunst
suggeriere Nähe, wo sie doch bloss «blindes Unverständnis» praktiziere.
«Man hüte sich mit wachen Sinnen, wenn man von ‹Interaktivität›, aber
auch, wenn man von Interface hört, wenn dieses nur meint, an
Installationsangeboten herumzuspielen und am Wunder des Prozeduralen
teilnehmen zu dürfen.» Für ihn reihen sich solche Arbeiten in einen
allgemeineren Trend zeitgenössischer Kunstpraxis ein: weg von der
Darstellung, hin zur Handlung. Nicht mehr Bilder würden heute
produziert, sondern bloss noch die «Präsenz von etwas». Das Museum sei
nicht mehr Speicher singulärer Schaustücke, sondern «Durchlauferhitzer
von Lebensstilen und Laboratorium einer Technisierung der Sinne». Dem
ist entgegenzuhalten, dass sich Medienkunst und insbesondere interaktive
Kunst an der spannenden Grenze zwischen Alltags- und Kunsterfahrung
positioniert, wovon sich viele andere Kunstgattungen längst
verabschiedet haben.

Was hier entsteht, ist nicht selten das ästhetische Labor
gesellschaftlicher Entwicklungen, in Ausnahmefällen sogar eine
Vorwegnahme zukünftiger Kommunikationsformen. An der Schnittstelle von
industrieller Forschung, privater wie kommerzieller Nutzung und
künstlerischer Praxis greift sie leicht und publikumswirksam auf die
vielfältigsten Themen zu. Die Kunst kommt so wieder zu ihrem
gesellschaftspolitischen Auftrag, und zwar klar und deutlich: Sie kann
unsere alltäglichen Lebensformen kommentieren, ironisieren oder ad
absurdum führen, wie dies etwa die holländischen Netzkünstler Jodi tun.
Ihr Werk, das kürzlich zum ersten Mal ausgestellt wurde, ist
normalerweise nur im Internet zugänglich und auch dort nie vorhersehbar,
weil Jodi den Ort seiner Existenz und die Rolle des Users durch
vermeintlich falschen Programmcode ständig in Frage stellen und neu
definieren.

«Medienkunst kann im Medium einen Blick auf dessen mögliche Zukunft
öffnen, und ebenso erinnert sie im Rückblick auf die uneingelösten
Utopien, welche die Entstehung und Formierung des Mediums begleiteten.»
Der Leipziger Medienwissenschafter Dieter Daniels zeichnet in seinem
Buch «Kunst als Sendung» die Entwicklung von der Telegrafie zum Internet
nach und verweist auf die zahlreichen Parallelen der Technik- und
Kunstgeschichte. Das eine kann vom anderen nicht getrennt werden, und
beide profitieren, wenn man das eine jeweils als Folie für die
Wahrnehmung des anderen nimmt. So betrachtet thematisieren interaktive
Arbeiten oft und auf neue Weise Aspekte, die in der Kunstgeschichte eine
lange Tradition haben, sei das die Rolle des Betrachters, der Ort des
Kunstwerkes oder das Spiel zwischen existierenden und imaginierten
Bildern. Umgesetzt werden diese Themen aber mit einer Technologie, die
noch vergleichsweise neu und in Entwicklung begriffen ist.

Peter Kraut



-------------------------------------------------------
rohrpost - deutschsprachige Liste zur Kultur digitaler Medien und Netze
Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost http://post.openoffice.de/pipermail/rohrpost/
Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de/cgi-bin/mailman/listinfo/rohrpost/