Wiener + Hentschlaeger on Thu, 23 Jan 2003 10:35:14 +0100 (CET)


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[rohrpost] Webfictions


N E U E R S C H E I N U N G

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Manfred Faßler, Ursula Hentschläger, Zelko Wiener
* WEBFICTIONS * 
Zerstreute Anwesenheiten in elektronischen Netzen
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Springer Wien / New York 2003
http://www.springer.at/main/book.jsp?bookID=3-211-83828-7&categoryID=1


Web-Entwicklung ist ein global betriebenes Kulturen-Projekt. * WEBFICTIONS *
versammelt weltweit agierende VertreterInnen der Spitzengruppe zur
Erforschung und Entwicklung von avancierten computerintegrierten
Medienräumen. Medien- und computerwissenschaftliche, künstlerische und
kommunikationswissenschaftliche Entwicklungsoptionen und Probleme werden
vorgestellt und ausführlich besprochen.

TEIL 1: MANFRED FAßLER
* Hybride Gegenwarten, cybride Räume *
Entwürfe, Gruppen, Gemeinschaften im World Wide Web.

TEIL 2: URSULA HENTSCHLÄGER ­ ZELKO WIENER
* Webart Shortcuts. Konturen einer Kunstwelt *
Online Interviewreihe



 - LESEPROBE  -  


Tilman Baumgärtel: Die kursorische Geschwindigkeit des Netzes

H+W: Seit wann arbeitest du mit dem Netz und warum?
TB: Seit 1995. Ich habe mich bei Compuserve angemeldet, die gerade "echtes"
Internet anzubieten begannen und dann eine deutsche
Journalisten-Mailingliste namens Jo!Net abonniert, die es heute noch gibt.
Innerhalb weniger Monate hatte ich genauso viele neue Freunde wie Feinde;
man begann, sich zum Frühstück zu treffen und so weiter. Dieses Erlebnis
einer "virtuellen Gemeinschaft" war der Auslöser für meine Faszination mit
dem Internet. Je mehr ich mich mit der Geschichte und der gewachsenen
Internet-Kultur zu beschäftigen begann, desto interessanter fand ich sie.
Bis heute ist all das freilich nur kleinen Zirkeln von Cognoscenti bekannt.
Für mich ist es wichtig, dieses Wissen aus solchen kleinen Kreisen
herauszuholen. 

H+W: Warum fasziniert dich das Netz?
TB: Am Anfang war es "the new, new thing². Überall gab es Hinweise auf
dieses neue Medium; es war exotisch, da war man natürlich neugierig. Ein
gutes halbes Jahrzehnt später ist es fast schon umgekehrt: jetzt muss man
den Leuten nicht mehr erklären, was das ist, was einen da interessiert. Seit
dem Dotcom-Crash ist es nicht mehr so chic, sich noch mit dem Internet zu
beschäftigen. Aber ich glaube, dass die großen, gesellschaftlichen
Veränderungen, die das Internet auslösen kann, noch gar nicht stattgefunden
haben. Jeff Bezos, der Gründer von Amazon.com hat kürzlich in einem
Interview gesagt, dass wir in punkto Internet immer noch in der Stunde Null
sind. Das glaube ich auch. Und ich finde es toll, dass ich in meinem Leben
die Gelegenheit habe, fast von Anfang an mitzuerleben, wie sich ein neues
Medium entwickelt und was es für gesellschaftliche Konsequenzen zeitigt. Das
ist ein Privileg, das längst nicht alle Leute haben.

H+W: Wo liegt die große Herausforderung an theoretischer Arbeit im Web?
TB: Ich bin mir nicht sicher, ob ich "theoretische Arbeit" im Web mache. Ich
habe selten das Bedürfnis verspürt, lange, theoretische Texte zu schreiben,
um sie dann über eine Website oder Mailingliste kursieren zu lassen. Meiner
Meinung nach entspricht das nicht der medialen Natur des Internet. Dessen
wichtigste Qualität ist, dass es schnell geht. Lange theoretische Traktate
profitieren davon nicht unbedingt; Information und fixe Gedanken schon eher.
Das heißt nicht, dass man online nicht trotzdem komplexe Gedanken verbreiten
kann; aber vielleicht nicht in Form langer, elaborierter Texte. Ich fand
immer, dass man mit Interviews der kursorischen Geschwindigkeit des Netzes
eher entgegenkommt. Damit kann man neue Ideen und Konzepte schnell abfragen
und weiter verbreiten. Es ist bestimmt kein Zufall, dass zum Beispiel auf
Listen wie Rhizome oder nettime so viele Interviews verbreitet werden; bei
Rhizome gibt es sogar eine eigene Rubrik mit Interviews. Darin liegt ein
Unterschied zu Print-Journalismus. Darum sind auch die beiden Bücher über
Netzkunst, die ich veröffentlicht habe, zum größten Teil aus Interviews
zusammengesetzt; sie kursierten zum Teil vorher schon im Internet. Die
theoretischen Vorworte habe ich für das Buch aufgespart.

H+W: Bezeichnest du dich dann als Medientheoretiker?
TB: Hm, schwierig. Meine beiden Bücher über Netzkunst haben zwar einen
theoretischen Anspruch, aber sie sind keine theoretischen Abhandlungen. Ich
fand es wichtig, durch diese Interviews erstmal eine faktische Grundlage für
Theoriebildung zu schaffen. Für mich kommt zuerst die Dokumentation, dann
die Analyse, dann die Theorie. Außerdem war ich selbst eben 1996 mitten in
diese Netzkunst-Szene hineingeraten. Ich befand mich also in einer guten
Position, um aus nächster Nähe über diese Entwicklung zu berichten. Ich war
allerdings nie ein vollkommener Insider, und will es auch gar nicht werden.
Für mich war es immer wichtig, mich nicht zu sehr mit den Leuten, die ich
als Protagonisten sah, anzufreunden, um eine gewisse Distanz zu bewahren.
Dadurch vermeidet man Vetternwirtschaft und bewahrt sich und seinen Urteilen
eine bestimmte Unabhängigkeit. Meine Bücher haben sich auch nie an die Szene
selbst gerichtet, sondern waren immer darauf angelegt, Leute jenseits der
üblichen Kreise zu erreichen; was offenbar teilweise auch gelungen ist.
Theorie hat - gerade im deutschsprachigen Raum - natürlich eine viel
wichtigere Position als Dokumentation, und manchmal denke ich, ich habe mich
durch diese Interviewbücher unter Wert verkauft. Ich bin nur der, der mit
den Leuten spricht und Informationen sammelt. Wenn ich statt diesen beiden
Materialbänden "net.art 1.0" und "net.art 2.0" (Verlag für moderne Kunst
Nürnberg 1999 und 2001, Anm.) ein Buch voller Fremdworte und Foucault-Zitate
geschrieben hätte, wäre mein Status ein ganz anderer. Aber im Augenblick
finde ich es immer noch wichtigerer, Material zu sammeln statt
Theoriebildung zu betreiben, weil die Entwicklungen, die mir interessant und
neu erscheinen, eben gerade jetzt stattfinden. Da mache ich lieber mit statt
aus der Ferne Theorien zu schmieden. Mit der Auswertung und der
Theoriebildung muss ich bis in meine zweite Lebenshälfte warten. Wenn ich
den Eindruck habe, dass die wichtigen Entwicklungen, die ich noch zu
verstehen in der Lage bin, vorbei sind, kann man immer noch theoretische
Überlegungen nachreichen. Dafür sind meine Urteile und Analysen dann
hoffentlich auch etwas valider als das, was zum Thema digitale Medien im
Augenblick so verbreitet wird. Das meiste davon ist nämlich hanebüchen.

H+W: Welches theoretische Modell erachtest du als relevant für das Web?
TB: Eines, das noch zu entwickeln ist. Im Augenblick stürzen sich die
verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen auf das Internet, was auch in
Ordnung ist. Aber langfristig muss schon eine eigene Methodologie her. Was
nicht heißt, dass es nicht trotzdem eine Soziologie, eine Ökonomie etc. des
Internets geben kann. Aber dafür müssen sich die Wissenschaften auch ein
Stück weit dem Internet anverwandeln.

H+W: Inwieweit findest du Theorien / Modelle an sich hilfreich?
TB: Ich weiß, dass ich bloß auf den Schultern von Giganten stehe, von denen
ich wichtige methodische und theoretische Anregungen bekommen habe, und ich
bin froh, dass ich mich aus den Arsenalen, die sie aufgebaut haben, bedienen
kann. Allerdings, immer wieder: Es geht, wenn man über das Internet und/oder
Netzkunst schreibt, nicht darum, existierende theoretische Modelle auf das
Internet zu beziehen, sondern umgekehrt, aus dem Internet heraus neue
theoretische Modelle zu entwickeln. Die entstehen zwar nicht aus dem
luftleeren Raum, sondern vor dem Hintergrund existierender
medienwissenschaftlicher und sonstiger Theoriebildung, aber sie müssen
trotzdem Bezug auf die medialen Eigenheiten ihres Gegenstandes nehmen. Das
Elend in der deutschsprachigen Medienwissenschaft war lange (und ist es in
gewissem Maße immer noch), dass sie von Literaturwissenschaftlern dominiert
wurde. Sie brachten ihr ganzes Instrumentarium aus ihrer erlernten Disziplin
mit, und wendeten es relativ umstandslos auf die neuen Medien an. Das könnte
theoretisch sogar interessant sein. Aber praktisch führte es vor allem zu
unglaublich phantasielosen und papierenen Texten; da finde ich jede E-Mail
von Richard Stallman aufschlussreicher. Langsam wird es besser, und es
tauchen Leute auf, die ihre Ideen über digitale Medien aus der gelebten
Auseinandersetzung mit diesen Medien schöpfen. Aber wenn ich mir die
Stellenanzeigen ansehe, mit denen in der "Zeit" nach Medienwissenschaftlern
für Unis gesucht wird, gehen die meisten immer noch von einem
literaturwissenschaftlichen Kanon aus. Die meisten Stellen sind in Fächern
wie Germanistik oder Anglistik, und da gehört Medienwissenschaft meiner
Ansicht nach inzwischen nicht mehr hin. Sie hat sich weit genug entwickelt,
um auf diese Fächer nicht mehr angewiesen zu sein.

H+W: Wechseln wir zum Thema Kunst. Welche Freiräume bietet Kunst heute noch?
TB: Die, die sie sich nimmt.
H+W: Geht es nicht um das je zeitgenössische Denken und Handeln, das immer
auch auf Reflexion des Bestehenden beruht?
TB: Ich glaube, dass Netzkunst eine Reaktion auf und Realisierung von Ideen
ist, die unter anderem aus der sogenannten "Netzkritik" gekommen sind. Sie
ist keine Übersetzung dieser Ideen in ein anderes Medium, sondern eine
Weiterführung und eine Rückführung in eine Praxis, die anders erfahrbar ist,
als durch die Lektüre von Texten. Im besten Fall setzt sie längerfristige
Prozesse in Gang, die diese Ideen einer lebensweltlichen Überprüfung
unterziehen.

H+W: Du hast von l'art pour l'art gesprochen, von modernistischer Kunst
u.a.m und begibst dich damit in einen traditionellen Kunstkontext. Sprichst
du von netart als Kunst oder von Kunst als netart?
TB: Nein, das ist zwar ein Dauerthema in der Diskussion über Netzkunst, aber
eines, das ich relativ langweilig finde. Künstler mögen das anders sehen.
Die Pointe meiner Argumentation im Vorwort von "net.art 2.0", ist vielmehr
die: Netzkunst steht zwar ganz klar in der Tradition eines künstlerischen
Formalismus, ist aber gerade darum eine "Nicht-nur-Kunst". Die
erfolgreichsten Netzkunstarbeiten kann man durchaus ansehen und goutieren,
ohne überhaupt zu wissen, dass es sich dabei um Kunst handelt. dass ich mich
in dieser Argumentation ausgerechnet auf Clement Greenberg beziehen kann,
amüsiert mich natürlich ganz besonders.

H+W: Webkunst bietet heute die Chance zur Konstruktion von Wirklichkeit,
bzw. von  Welt, da belebbare Umgebungen hergestellt und somit eigenständige
Subsysteme geschaffen werden können. Wie siehst du das?
TB: Wenn mit der "Konstruktion von Wirklichkeit" dreidimensionale
VRML-Modelle gemeint sind, finde ich das relativ uninteressant. Wenn damit
das Potenzial zur Organisation und Aktivismus über das Netz gemeint ist,
finde ich das schon interessanter. Tolle Beispiele für ein "eigenständiges
Subsystem" waren zum Beispiel der "Toywar" oder jetzt die Aktionen der "Yes
Men". Deren spezieller Reiz besteht freilich gerade darin, dass ihre
Aktivitäten im Netz ziemlich weitreichende Auswirkungen in der "wirklichen
Welt" hatten. 

H+W: Reicht es also aus, einen Domain-Prozess zu führen und damit Kunst
produziert zu haben, oder nicht? Resp. ist nicht der Domain-Prozess
symptomatisch für unsere Gesellschaft und deshalb nicht ein
gesellschaftspolitisches  Problem?
TB: Diese Frage nach den Mechanismen, durch die Kunst zu Kunst wird, ist
meiner Ansicht nach nicht das Spannendste an der Netzkunst. Es ist ein
Dauerthema, ganz klar, aber eben nur eines unter vielen. Mir geht es um
Erkenntnisgewinn zum Thema Internet. Und da hat die Netzkunst oft die
interessantesten Fragen und die radikalsten Herangehensweisen gezeigt.
Domainprozesse werden auf der ganzen Welt den lieben, langen Tag geführt;
das ist erstmal keine Kunst. Wenn man aber, wie "etoy² (www.etoy.com, Anm.),
aus diesem Verfahren ein Spektakel macht, an dem sich auf der ganzen Welt
Leute beteiligen, dann hat das schon etwas von einer Performance. Das, was
etoy gemacht haben, war eine Herangehensweise, auf die die usual suspects
(Rechtsanwälte, Domainname-Kläger, konkurrierende Firmen etc.) normalerweise
nicht kommen. Die Aufladung des Toywar zum politisch korrekten
Internet-Entertainment und die Einbeziehung aller potentiellen Verbündeten
war aber natürlich als Kunst auch eine mit Marketingmethoden durchgezogene
Propagandaschlacht. Das war gerade das Interessante daran. Solchen
Phänomenen kommt man nicht wirklich nahe, wenn man die ganze Zeit bloß auf
dieser Kunst-Nichtkunst-Dichotomie herumreitet.

H+W: Betrachtest du Kunst nur in ihrer gesellschaftspolitischen Dimension
als Kunst, bzw. als interessant?
TB: Nein. Aber die gesellschaftspolitische Dimension lässt sich am
leichtesten vermitteln, und wird im Diskurs über Kunst am häufigsten
unterschlagen. Natürlich hat Kunst, auch die Netzkunst, ästhetische
Dimensionen. Aber die will ich den Leuten nicht aufdrängen, das ist eine
persönliche Sache. Ich will niemandem meinen privaten Geschmack aufzwingen.
Es gibt aber auch Netzkunst-Arbeiten, die ich wirklich schön finde. Ich habe
sogar schon Sachen aus diesem Bereich *gekauft*, um sie mir an die Wand zu
hängen (Ohmeingott!).

H+W: Welche Entwicklungen zeichnen sich ab?
TB: Manuel Castells hat neulich bei einem Vortrag in Berlin auf eine
ähnliche Frage geantwortet, dass er keine Prognosen abgibt, sondern
versucht, die unmittelbare Vergangenheit einigermaßen korrekt vorherzusagen.
Das ist auch meine Haltung. Was die Zukunft bringt, erfahren wir in der
Zukunft. Wenn mir vor fünf Jahren jemand erzählt hätte, dass SMS der Hit
unter den neuen Telekommunikationsanwendungen werden wird, hätte ich ihn
ausgelacht. So können sich "Experten" irren.



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