florian schneider on 11 Oct 2000 19:20:57 -0000


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[rohrpost] net.congestion


[hier ein erster bericht aus amsterdam, der am donnerstag in der
suedeutschen zeitung erscheint. viele gruesse: florian]

SEI EINFACH MEDIUM

Wenn viele Menschen zum selben Zeitpunkt das gleiche Ziel haben,
passiert in der Regel Unvorhergesehenes: eine Art Revolution, wie
unlängst in Belgrad, oder ein Paradox, wie der Stau, der auf deutschen
Autobahnen in diesem Sommer so lang war wie nie zuvor. Weil das Internet
gerne mit dem Straßennetz verglichen wird, hat sich eine Vielzahl von
Metaphern aus der Autowelt in die Netzkultur eingeschlichen. Es begann
mit der Datenautobahn, mit der Al Gore einst für die automobile
Informationsgesellschaft warb. Dass der Traum von der
Höchstgeschwindigkeit aber mehr oder weniger zwangsläufig im Stau endet,
ist die finstere Drohung, die über dem aktuellen Trend im Internet
schwebt: Streaming Media, also das Übertragen großer Mengen von
audio-visuellen Inhalten in Echtzeit ist praktisch permanent von einem
verhängnisvollen Schicksal bedroht: dem schleichenden oder abrupten
Kollaps der Übertragung.

Realistische Taktiker zeichnen sich dadurch aus, dass sie erst einmal
vom Schlimmsten ausgehen, um sich dann gerne eines Besseren belehren zu
lassen. Insofern war der Titel der Amsterdamer Konferenz weniger
pessimistisch als auf den ersten Blick anzunehmen. Zu "Net.congestion" -
zu deutsch: Netzstau, http://net.congestion.org -  trafen sich am
vergangenen Wochenende Pioniere und professionelle Anbieter, Künstler
und Hobby-Streamer, Aktivisten und alle Sorten von Quer- und
Neueinsteigern, die das Internet zu mehr nutzen wollen als dort blossen
Text und einfache Grafik abzustellen. Präsentiert, debattiert und
selbstverständlich live gestreamt wurde eine Vielzahl von Projekten in
der gesamten verfügbaren Bandbreite ästhetischer Ansätze und
technologischer Prognosen. Die besondere Qualität einer solchen
Konferenz, die sich bewusst in die Tradition der legendären "Next 5
minutes" stellte,  kann schließlich nur darin bemessen werden, wie
realistisch die tatsächlichen Gegebenheiten reflektiert werden. Dies
gelang "Net.congestion" allemal: Eine hybride Mischung aus Kongress,
Party, Messe, Show, Seminar und Anfänger-Workshop spiegelte die aktuelle
Situation in Sachen Streaming Media: Noch gibt es die friedliche
Koexistenz von Mega-Kommerz und fröhlichem Dilettantismus, Ambition und
Businessplan, Kunst und Subkultur.

Die Kernthese ist quer durch alle Lager unumstritten: Es dämmert
unweigerlich das Ende von Radio, Film und Fernsehen, wie wir es kennen.
Niemand kann aber sagen, wo diese Entwicklung hinführen wird. Wohin man
auch blickt, machen provisorische Lösungen den Charakter der neuen
Medienwirklichkeit aus. Resultat ist eine Kultur des Imperfekten und zum
Beispiel eine Renaissance oraler Erzählstrategien, die sich den
klassischen Plotgesetzen der verschriftlichten Welt Stück für Stück
entziehen. Nora Barry vom Online-Filmfestival "The Bit Screen" sieht im
Moment vier narrative Taktiken im Aufwind: Interaktive Geschichten, die
dem User die Kontrolle über den Fortgang der Handlung übereignen;
kollaborative Strategien, bei denen mehrere gleichberechtigte Autoren am
Werk sind; Zufallskonfigurationen, wenn Datenbanken automatisch jeweils
einzigartige Versionen zusammenstellen; und zu guter Letzt der
klassische Kurzfilm. 

Überschaubare Datenmengen kombiniert mit althergebrachter Dramaturgie
machen derzeit sicherlich den populärsten Audio- oder Video-Content auf
Seiten kommerzieller Anbieter aus. Ob die User, sobald sie einmal Blut
geleckt haben, sich mit der Fortschreibung ihrer Rolle als
Couch-Potatoes zufrieden geben, darf jedoch getrost bezweifelt werden.
Zu groß sind die Verlockungen, mit denen neue Technologien und deren
digitale Übertragungswege winken: Es beginnt beim banalen Chat, der als
eine Art Rückkkanal heutzutage jedes Streaming begleitet, das etwas auf
sich hält. Dies führt zwangsläufig zum Recht auf Programmierung, das aus
den Redaktionstuben der Sendeanstalten in die Hände eines selbstbewußten
Publikums übergleitet. Vorläufiger Endpunkt sind im Moment noch richtig
radikal anmutenden Szenarien, in denen die klassische Handlung mit
festgefügtem Anfang und Ende in zahllose Erzählfragmente zertrümmert
wird.

Wenn der Nutzer mit dem Autor, der Sender mit dem Empfänger und das
Produkt mit dem Prozess konvergieren, werden auch die geläufigen
Vorstellungen von Reichweiten und Zielgruppen den Bach hinuntergehen,
der im Moment eher wie ein reissender Strom wirkt. Diese Prognose
beflügelte die erfrischendste Panneldiskussion mit dem eleganten und
stilsicheren Titel "Target.audience=0". Null Zuhörerschaft müsse
keineswegs zu Frustration führen, versucht Eric Kluitenberg, einer der
Organisatoren von "Net.congestion", deutlich zu machen: "Scher dich
nicht ums Publikum, sei einfach Medium!" heißt die von der Agentur
Bilwet schon vor langem ausgegebene Devise souveräner Medien. Viele
ehrgeizige und mit viel Geld aufgeblasene Projekte litten laut
Kluitenberg aber unter der Wahnvorstellung, unbedingt etwas
kommunizieren zu wollen, anstatt sich auf die einzige, wirklich
erfolgreiche Botschaft zu besinnen, die da lautet: "Ich bin hier." Dass
eine selbstgenügsame Herangehensweise nicht zur Ego-Massage verkommen
muss, weiß Raul Marroquin vom Internet- und Kabelsender "De Hoeksteen"
zu berichten: "Sobald wir erkannten, dass wir Antwort bekamen, begannen
wir auch Verantwortung zu spüren." 

Um zu demonstrieren, welche sozialen Veränderungen der taktisch
geschickte Einsatz von Medien beflügelt, die sich in den Händen der
Menschen und nicht des Staates befinden, waren eine Reihe Gäste aus
Belgrad eingeladen. "Net.congestion" wegen versäumten sie den Umsturz zu
Hause. Umso größere Bedeutung haben die Erfahrungen, die ein
Piratensender wie B92 bei der trickreichen Umgehung des staatlichen
Sendemonopols sammeln konnte. Gerade in Gegenden dieser Welt, die nicht
über bandbreitige Zugänge verfügen oder wo eine einzige Telefonleitung
schon ein kaum vorstellbares Privileg ist, gehört die Zukunft dem
hybriden Mix aus allen möglichen Übertragungswegen, seien sie nun analog
oder digital, via Internet oder Satellit, im Äther oder im Boden
verlegt. Arun Mehta, Streaming-Experte aus New Delhi, legt darüberhinaus
drei inhaltliche Kriterien fest, die unabhängige Medien im Zeitalter des
"Digital Divide" auszeichnen sollten: Unmittelbare Verbesserungen im
konkreten Leben der Menschen herbeizuführen, Medienkompetenz zu
befördern und dadurch die herrschenden Machtverhältnisse zu verändern.

Soviel Optimismus erinnert an Hoffnungen, die in der Früh- und Blütezeit
von Dokumentarfilm- oder  Videobewegung kursierten. Der entscheidende
Unterschied besteht aber darin, dass heute nicht nur die
Produktionswerkzeuge, sondern auch effiziente Distributionswege
prinzipiell verfügbar sind. Inwieweit Streaming im Internet dem
dokumentarischen Genre nun aus der strukturellen Krise helfen könne, war
Thema einer eigenen Diskussionsrunde. Neben interaktiven Elementen, die
bisweilen ästhetisch recht fragwürdige Bereicherungen bieten, tut sich
im Netz eine völlig neue Dimension für non-fiktionale Filmproduktion
auf: Anstelle blosser Dokumentation muss es jedoch um eine Art
Meta-Documentary gehen. Dies birgt die  ungeheure Chance, eine Sicht der
Wirklichkeit zu konstituieren, die auf zeitlich wie räumlich
unbegrenzten, parallel stattfindenden und miteinander vernetzten
Prozessen beruht. 

Pionierarbeit leistet in diesem Zusammenhang der Kanadier Philip Pocock,
der zur Zeit am Karlsruher ZKM arbeitet. Sein neuestes Projekt
"Humbot.org" spürt Alexander von Humboldt nach und dessen
Forschungsreise, um die unterirdische Verbindung zwischen Amazonas und
Orinoco zu entdecken. Humboldt fand tatsächlich einen Upstream, und
Pocock leitet daraus seine Maxime für Online-Projekte ab: Interaktivität
habe nichts mit Mausklicken zu tun, es gehe vielmehr um die Nutzung der
Zwischenräume, der vielfältigen Beziehungen  zwischen Autor und
Publikum. "Soviel wie beide Seiten zur Verfügung stellen, soviel
bekommen sie jeweils auch zurück". Eine interessante Ökologie der
digitalen Welt, und sicherlich die beste Stauvermeidungsstrategie.
 
FLORIAN SCHNEIDER

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